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Lieder der Eisflut

Von Mary Kirby

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Faye hing schwerelos, körperlos im Nichts und betrachtete die fernen, verworrenen Lichter all jener Menschen, die in Bastion wach waren. Andere Krypter wie sie lauschten auf eingehende Nachrichten, stellten Berechnungen an und organisierten Daten in Archiven. Vielleicht waren sie mit Freelancern oder Sentinels in Javelin-Anzügen verbunden, die hoch im Himmel durch die kalte Nachtluft sausten. Ein Gefühl der Vertrautheit nagte an ihr. Sie wusste, dass sie all dies auch schon getan hatte, bevor sie zum Kenotaph aufgebrochen war, aber sie wusste nicht mehr, warum, oder wonach sie in der Dunkelheit gesucht hatte. Als wäre das alles jemand anders gewesen.

Faye wandte sich von den Lichtern ab und lauschte dem Portal, dem Flüstern der Gestalter-Instrumente, die ihren seltsamen und mysteriösen Aufgaben nachgingen, und dem weit entfernten Summen der Hymne der Schöpfung. Irgendwo, in der Stille der Dunkelheit, würde sie sie zweifelsohne finden können. Spuren, wie Fußabdrücke im trocknenden Schlamm, die ihre eigenen Gedanken an diesem Ort hinterlassen hatten. Ihr eigener Verstand. Ihre eigenen Erinnerungen. Wenn sie nur gut genug zuhörte ...

Ein anderes Geräusch – lauter, dissonant und aufdringlich – störte ihre Konzentration.

Was? Sie verspannte sich. Der Lärm ertönte erneut – doch diesmal hörte sie genauer hin.

Ganz in der Nähe sang jemand ein Eisflut-Lied. Laut. Und ohne auf Tempo, Tonart oder Melodie zu achten. Faye konnte überhaupt bloß erkennen, dass der Lärm ein Eisflut-Lied sein sollte, weil der Refrain ständig wiederholt wurde: „Eisflutkälte! Eisflutkälte!“

Sie zog die Fäden ihres Bewusstseins in ihren Körper zurück, öffnete die Augen und seufzte. Die Welt um sie herum nahm wieder Gestalt an, bis sie den Verstärkerraum des Läufers erblickte, der kaum breit genug war, als dass in ihm zwei Menschen nebeneinander stehen könnten, und in dem jetzt Ketten mit bunten Lichtern hingen, die das trübselige, dunkle Innere mit den engen Wänden und der tiefen, rostigen Decke erleuchteten.

Faye schaltete den Verstärker ab und stand von dem Stuhl auf, auf den jemand Papierschneeflocken geworfen hatte, während sie verbunden gewesen war. Nicht, dass es sie überraschte. Der Gesang, wenn man den Lärm denn so nennen wollte, dröhnte aus dem Frachtraum unter ihr.

Sie folgte der Spur von Papierdekorationen und dem schiefen Gesang in die Bordküche, ging vorsichtig um den Tisch herum – und stieß dabei etwas Geschirr um, das Haluk wie immer nach dem Frühstück hatte stehen lassen –, stieg eine schmale Treppe hinunter und fand Haluk letztendlich in der Schmiede, die ebenfalls mit bunten Lichtern und Papierschneeflocken geschmückt war, wo er an seiner Rüstung arbeitete und lauthals sang. Sein Javelin war erstaunlicherweise nicht mit Eisflut-Verzierungen überhangen, aber der übermütige Ex-Freelancer, der in all den Jahren, die sie sich bereits kannten, noch nie ein Hemd getragen hatte, trug eine Strickmütze mit einem riesigen, Freelancer-gelben Bommel auf dem Kopf – als einziges Zugeständnis an das eisige Wetter.

„Hmmm-hmmm, wenn das Eis das Land überzieht, man keine Skar und Skorpedonen mehr sieht, und hmmm-hmmm-hmmm-hmmm, Eisflutkälte! Eisflutkälte!“

Haluk tanzte ein wenig auf der Stelle, während er die Zange ablegte und nach dem Schraubenzieher griff.

„Haluk.“ Faye verschränkte die Arme über ihrer Brust und wartete. Endlich hob er den Blick von seinem Javelin.

„Hey, da bist du ja wieder! Was hältst du von der Deko?“ Er deutete mit dem Schraubenzieher stolz auf die Verzierungen im Frachtraum und strahlte Faye an.

„Sehr ...“ Faye zögerte, hin- und hergerissen zwischen gutem Geschmack und ihrer Freundschaft mit Haluk. Die beiden Seiten kamen zu einem provisorischen Waffenstillstand. „Festlich. Hast du diese ganzen Schneeflocken selbst gebastelt?“

„Na ja, größtenteils. Ich hab mir vielleicht ein wenig vom Grünschnabel helfen lassen.“ Er legte seine Werkzeuge ab und lehnte sich gegen die Schmiede, um sein verletztes Bein zu entlasten. „War ich zu laut?“

Faye seufzte. „Die Lautstärke war eher weniger das Problem, sondern die Qualität.“

„Möchtest du mir etwa sagen, dass mein Gesang nicht perfekt ist?“ Haluk sah sie mit einem überzogen erstauntem Blick an.

„Es würde helfen, wenn du den Text könntest. Oder die Melodie. Oder auch nur irgendeinen anderen Teil des Liedes.“

„Pah, Kritiker.“ Haluk lachte. „Okay, okay. Ich bemühe mich, leiser zu sein.“ Er starrte einen Moment lang in die Ferne und seufzte. „Weißt du, im Schlammland wird die Eisflut ganz anders gefeiert.“

Faye wusste das natürlich. Sie hatte diese Geschichte schon ein halbes Dutzend Mal von Haluk gehört. „Ja, es geht eher darum, sich auf das vergangene Jahr zu besinnen und zu überlegen, wie man sich auf die Zukunft vorbereitet.“

Er lachte leise. „Viel gesungen wird da nicht, verstehst du? Also ... hast du Pläne?“

„Na ja ...“ Sie hielt inne. Sie wusste genau, dass das eine Testfrage war. Seit sie den Kenotaph eingedämmt hatten, schweiften ihre Gedanken häufig. Oder vielleicht schweifte die Realität. Faye war sich nicht immer sicher. Es entging ihr nicht, dass Haluk vergebens versuchte, seine Sorge vor ihr zu verbergen. Sie wusste, dass er sie immer genau beobachtete, um zu sehen, ob sie noch das Datum wusste, welches Jahr es war, wie er hieß. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie die Feiertage früher verbracht hatte, und dann wurde eine Erinnerung in ihr wach. „Ich habe die Kassetten für das diesjährige Wacht der Dämmerung-Eisflut-Special. Die habe ich mir für den richtigen Moment aufgehoben.“

Verschiedene Emotionen huschten binnen einer Sekunde über Haluks Gesicht. Belustigung, Entsetzen ... Überraschung schob die anderen aus dem Weg und machte sich auf seinen Zügen breit. „Wie bist du denn an die gekommen? Die Sendung wurde doch noch gar nicht in Antium ausgestrahlt.“

Faye strahlte ihn an. Sie hatte monatelang darauf gewartet, endlich damit angeben zu können. „Ich habe einen Freund, der an der Sendung mitarbeitet. Er hat sie mir geschickt. Wurden schon vor Monaten aufgenommen und nur zurückgehalten, bis es richtig kalt wird. Schließlich weiß man nie, wann die Eisflut wirklich anfängt.“ Sie hätte ihm noch mehr erzählt, aber Haluk spielte ungeduldig mit seinem Gehstock, was immer ein klares Zeichen dafür war, dass er gehen wollte. Auch wenn sie schon wusste, wie seine Antwort ausfallen würde, fragte sie ihn: „Wollen wir sie uns zusammen anhören?“

„Nein, danke.“ Es klang fast wie eine Entschuldigung. fast. „Ich muss eh bald los. Vielleicht“, er zögerte kurz, denn der nächste Satz würde auf jeden Fall eine Lüge sein, die nur dazu diente, das friedliche Verhältnis zwischen Mitbewohnern aufrechtzuerhalten, „vielleicht erzählst du mir später davon, okay?“

„Na klar“, sagte Faye, die genau wusste, dass sie das auf gar keinen Fall versuchen würde.

Haluk nickte voller Erleichterung, dass der Frieden gewahrt wurde und er sich trotzdem nicht Fayes Radiosendung anhören musste, und er ging hinauf in das Cockpit des Läufers, sodass Faye alleine im Frachtraum zurückblieb. Sie atmete tief ein und genoss die Ruhe. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, dass der düstere Frachtraum, der nur von den Lichterketten beleuchtet wurde, sich langsam auflöste. Licht strömte durch die Risse in der Welt und ein Muster wurde sichtbar, wie Wellen, die durch den Raum schwappten.

Das Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war. Der Motor des Läufers stotterte, ratterte, startete neu, und dann schwankte und neigte sich der Frachtraum, als die Beine sich in Bewegung setzten. Die Wirklichkeit kehrte donnernd zurück, als würden Stiefel auf dem Boden aufkommen, und der Rumpf des Läufers bebte.

Tee. Mit Tee würde sie sich besser fühlen. Faye ging hoch in die Küche und setzte Wasser auf. Dann holte sie ihr magnetisches Tonbandgerät aus ihrem Spind und legte es auf den Tisch. Bis der Tee fertig war, hatte der Läufer sein Ziel erreicht. Stille erfasste die Kabine.

Sie drückte auf Abspielen.

Die Musik ertönte und Faye summte leise mit, bis die Stimme des Erzählers aus dem Tonbandgerät erklang. „Antiums Elite-Lancer schulden niemandem Rechenschaft – außer dem Imperator. Zwischen dem Dunkel der Nacht und dem Licht des Tages steht nur die Wacht der Dämmerung. Die Zeit der Eisflut ist angebrochen. Was bringen die kalten Winde diesmal für unsere Helden?“

Faye lehnte sich auf ihrem Stuhl vor und nippte an ihrem Tee, während sie der vertrauten Stimme von Walker, der Anführerin der Wacht der Dämmerung, zuhörte. „Hört mal alle her, Freelancer. Wir haben eine Mission.“ Faye stellte sich Walker immer vor wie eine grauhaarige, Javelin-tragende Version ihrer Mutter. Mit dunkler Haut und dunklen Haaren, und aus purem Stahl gemacht. Dann hörte sie eine unbekannte, hohe Frauenstimme. „Mitglieder der Wacht der Dämmerung, mein Name ist Krypter Mirron.“

Faye runzelte die Stirn. Warum gab es einen neuen Krypter in der Sendung? Krypter Rada war in den letzten fünf Staffeln fester Bestandteil der Serie gewesen. Rada war Fayes Lieblingsfigur. Sie bereitete sich mental auf alle möglichen an den Haaren herbeigezogenen Wendungen für das Special vor.

„Wenn das alles nur ein Traum ist“, murmelte Faye warnend, „schmeiße ich die Kassette die Tarsis-Fälle runter."

Der neue Krypter sprach weiter: „Ich bin direkt von Corvus gekommen, um euch äußerst wichtige Neuigkeiten mitzuteilen.“

Plötzlich hallte ein lautes Scheppern durch den Läufer. Ein Motor unten im Frachtraum quietschte kläglich, als der Aufzug vom Dach des Läufers abgesenkt wurde. Faye zuckte zusammen und drückte auf Pause.

Sie schaute über das Geländer in den Frachtraum. Zwei Javelins traten aus dem Aufzug in den Raum, von dem jeder vernünftige Mensch sich hätte denken können, dass er sogar für einen einzigen Javelin schon zu klein wäre. Der erste der beiden war ein Ranger, dessen Rüstung mit pinken Flammenaufklebern verziert war. Der zweite war ein Interceptor, der mit Phiranix-Schuppen bemalt war. Sie sahen sich nervös um, traten von einem Stahlfuß auf den anderen und versuchten erfolglos, sich nicht anzurempeln oder irgendwelche der Dekorationen runterzuwerfen, die viel zu nah an ihren Köpfen hingen. Dem Interceptor klebte bereits eine Papierschneeflocke am Arm und er schlug dem Ranger mit dem Ellenbogen in die Brust bei dem Versuch, sie mit seinen viel zu großen Metallhänden wieder zu entfernen.

Haluk rief vom Treppenabsatz im Cockpit hinunter: „Okay, Freelancer! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

„Haluk.“ Faye drückte in diesem einen Wort aus, dass sie ihrem Freund gerne die Mühe ersparen würde, die ganzen Stufen hinunterzugehen, indem sie ihn einfach übers Geländer warf.

Haluk blieb auf halbem Weg durch die Küche stehen. „Tut mir leid, tut mir leid. Ich scheuche sie wieder raus, damit sie dich nicht stören.“ Er polterte schnell weiter in Richtung Frachtraum.

Faye starrte auf den Schrank vor ihr und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf ihre Teetasse.

„Macht es euch nicht zu gemütlich.“ Haluks Stimme dröhnte durch den Frachtraum. „Ich hole meinen Anzug und dann gehen wir sofort wieder raus. Es bringt nichts, von hier aus mehr über den Pfad herauszufinden.“

Darauf folgte einiges Keuchen und Grunzen, als er in seinen Colossus kletterte, während die beiden Lancer, die auf ihn warteten, nervös von einem Fuß auf den anderen traten. Das donnernde Scheppern, als Haluk in seiner Rüstung aus der Schmiede trat, zeigte deutlich, dass seine Portalverbindung diesmal wenigstens gut genug war, dass er sich bewegen konnte.

„Also“, Haluks Stimme drang gedämpft aus seinem Helm. „Vergesst da draußen nicht, euch zu entspannen und auf alles vorbereitet zu sein.“ Eine Pause. „Was gibt’s, Verder?“

Faye warf einen Blick nach unten.

Der wenige freie Platz, der in dem zuvor schon beengten Raum noch übrig gewesen war, wurde jetzt von Haluks massivem Colossus-Anzug eingenommen, an dem eine Lichterkette hing, die er versehentlich beim Verlassen der Schmiede runtergerissen hatte. Der Ranger senkte seine gehobene Hand wieder und eine unsichere Altstimme erklang aus dem Helm. „Ähm ... Wie bereitet man sich auf alles vor? Alles ist ganz schön viel.“

Noch eine Pause. Dann sagte Haluk im diplomatischsten Ton, den er zustande brachte: „Weißt du was? Daran arbeiten wir noch. Komm schon, Ardsley, du gehst vor.“ Er nickte in Richtung Aufzug.

„Ich?“ Die Stimme des Interceptors mit den Fischschuppen war hoch und klang ein wenig bedrückt. „Na gut. Bringen wir’s hinter uns.“

Der Aufzugmotor sprang wieder an und quietschte jetzt noch lauter, da er drei Javelins befördern musste. Faye schloss die Augen, als könnte sie den Lärm dadurch ausblenden. Ein letztes Scheppern dröhnte durch den Läufer, als der Aufzug zum Stehen kam.

Stille.

Faye stellte ihren Tee hin, der eh kalt geworden war. Sie atmete tief ein und wartete. Haluk hatte bestimmt etwas vergessen. Oder einer dieser Freelancer würde nochmal zurückkommen, um auf die Toilette zu gehen. Irgendetwas würde bestimmt passieren.

Nach einem weiteren Moment der Stille atmete sie aus und drückte wieder auf Play.

„... Um auf die Bedenken des Imperators einzugehen –“ Die ständig besorgte Stimme von Lancer Hawking war mitten im Satz und Faye pausierte die Kassette verärgert erneut. Sie hatte etwas verpasst. Sie spulte zurück und versuchte es noch mal.

Die Intro-Musik ertönte wieder. „Antiums Elite-Lancer schulden niemandem Rechenschaft – außer dem Imperator. Zwischen dem Dunkel der Nacht und dem Licht des Tages steht nur die Wacht der Dämmerung. Die Zeit der Eisflut ist angebrochen. Was bringen die kalten Winde diesmal für unsere Helden?“

Der neue Krypter-Charakter stellte sich noch einmal vor: „Mitglieder der Wacht der Dämmerung –“

Die Gegensprechanlage des Läufers meldete sich mit einem statischen Knistern und Faye musste sich zusammenreißen, damit sie nicht ihre Teetasse in ihre Richtung warf.

„Hey, Faye?“ In Haluks doppelt gedämpfter Stimme klang der Hauch einer Entschuldigung mit. „Tut mir echt leid. Könntest du zum Cockpit gehen und unseren Transmitter aufdrehen? Unser Signal fällt ständig aus.“

Mit einem Seufzen pausierte Faye die Kassette wieder und stand auf. Die Treppe am anderen Ende der Küche führte zu dem beengten Cockpit. Dieser Raum gehörte Haluk, mehr noch als jeder andere Teil des Läufers, und er sah aus, als wäre die Eisflut darin über alle Ufer getreten. Ein Stapel noch nicht fertiger Papierschneeflocken und eine Kiste Lametta lagen auf dem Fahrersitz und die Steuerkonsole wurde von Korox-Plüschtieren und noch mehr farbigen Lichtern geschmückt. Ein Strickschal, der bestimmt vier Meter lang war, schien unter die Konsole gestopft worden zu sein und Faye konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte. Wollte er ihn seinem Javelin anziehen? Sie suchte nach der Steuerung des Transmitters und drehte das Signal auf. Dann wandte sie sich der Gegensprechanlage zu, auf der Korox-Scherenausschnitte klebten.

Sie drückte mit so viel Kraft auf die Taste der Gegensprechanlage, dass ihr danach der Finger wehtat. „Erledigt.“ Fayes Stimme klang viel genervter, als sie eigentlich wollte.

Aus der Gegensprechanlage drang erneut ein lautes Knistern. „Danke, Faye! Nochmal Entschuldigung für die Umstände.“

Sie warf einen letzten Blick auf das Feiertagschaos im Cockpit, seufzte angewidert und ging die Treppe zur Küche runter.

Faye starrte wütend auf das Tonbandgerät und spulte noch mal zurück. Sie brauchte mehr Tee. Und was zum Knabbern. Warum hat sie das überhaupt ohne Snacks versucht? Sie setzte noch einmal Wasser auf und wartete, bis es kochte.

In der Stille der Küche schienen sich Muster auf den Schranktüren und den Böden zu bilden und im Rhythmus lautloser Klänge aus ihnen hervorzutreten. Faye schloss die Augen, um den Anblick zu verdrängen. Wenn sie nicht hinschaute, würde sie auch das Geräusch nicht hören, oder? Sie hielt den Atem an, während die chthonischen Klänge der Hymne der Schöpfung durch die Küche des Läufers dröhnten und durch ihren ganzen Körper vibrierten.

Der Wasserkocher pfiff laut und schaltete sich mit einem Klicken aus. Faye öffnete die Augen und atmete langsam aus. Sie stand etwas wackelig auf, schenkte sich eine frische Tasse Tee ein und trug sie mit übertriebener Vorsicht zurück zum Tisch. Sie setzte sich behutsam wieder hin, als hätte sie Angst, durch den Stuhl zu fallen.

Sie drückte auf Abspielen.

Der Fahrstuhl quietschte gequält und Faye hielt sofort die Kassette wieder an.

Haluk stampfte in seinem riesigen Colossus zur Schmiede.

Faye lehnte sich ans Geländer und sah ihm dabei zu, wie er sich mit hochrotem Kopf aus dem Anzug kämpfte. Eine Alarmglocke schrillte in ihrem Kopf. „Ärger?“, fragte sie. Hunderte wütende Kommentare versiegten ihr auf der Zunge.

„Probleme mit dem Anzug.“ Haluk deutete wütend auf den leeren Colossus, von dem sie beide genau wussten, dass er perfekt funktionierte. „Die Portalverbindung bricht ständig ab. Die Gliedmaßen sind blockiert und dann hab ich den Kontakt zum Transmitter verloren. Ich sollte diesen alten Schrotthaufen einfach für was anderes benutzen.“ Er nahm seinen Gehstock und ging die Treppe hoch. „Zum Beispiel als Garderobe oder Mülleimer.“

„Er eignet sich bestimmt auch als Briefbeschwerer“, sagte Faye als gute Mitbewohnerin und sah zu, wie ihr Freund seine Frustration mit jedem wuchtigen Schritt an der armen Treppe ausließ. Hilfsbereit fügte sie hinzu: „Oder vielleicht als Blumenkübel? Wenn wir ihn mit Farnen füllen, würde das den ganzen Läufer wohnlicher aussehen lassen.“

Haluk lachte und schüttelte den Kopf. „Na ja, ich bleib übers Funkgerät in Kontakt mit den Grünschnäbeln.“ Er blieb mitten auf der Treppe stehen und sah sie verlegen an. „Tut mir wirklich leid. Das mit den ganzen Unterbrechungen.“

„Das sollte dir auch leidtun.“

„Ich mach’s wieder gut!“, rief Haluk vom Treppenabsatz runter. „Wenn wir wieder in Fort Tarsis sind, lade ich dich auf diese Teigtaschen ein, die du so gerne magst.“

„Du solltest mich lieber zweimal einladen.“ Sie setzte sich wieder an den Tisch und machte das Tonbandgerät an.

„Antiums Elite-Lancer schulden niemandem Rechenschaft – außer dem Imperator. Zwischen dem Dunkel der Nacht und dem Licht des Tages steht nur die Wacht der Dämmerung. Die Zeit der Eisflut ist angebrochen. Was bringen die kalten Winde diesmal für unsere Helden?“

„Hört mal alle her, Freelancer –“

In genau diesem Moment sprang der Motor des Läufers widerwillig an und die Kabine schwankte im Takt der Schritte hin und her. Mit einem unendlich frustrierten Seufzer hielt Faye die Kassette erneut an. Sie starrte auf den Boden neben ihren Füßen und ging gedanklich schon mal den wütenden Streit durch, den sie gleich mit ihrem Mitbewohner anfangen würde.

Der Boden riss an mehreren Stellen auf und Licht strömte aus den Spalten. Seltsames, kaltes Licht, in dem sich Gestalten zu bewegen schienen.

„Tut mir leid, Faye.“ Haluks gedämpfte Stimme ertönte über die Gegensprechanlage und vertrieb die Vision. „Irgendein Berg oder so was behindert das Funksignal. Ich muss nach ’nem geeigneteren Standort suchen.“

Erleichterung und Ärger lieferten sich eine kurze, brutale Schlacht in ihrem Kopf. Keines von beidem ging als Sieger aus ihr hervor. Langsam und bedächtig stand Faye auf. Sie ging durch die schwankende Kabine, dann die Treppen hoch, und erreichte das Cockpit gerade, als Haluk den Läufer zum Stehen brachte. Während er sich vom Portal trennte, sein Bewusstsein von dem Läufer löste und sich in seinen Körper zurückzog, nahm sie eins der Korox-Plüschtiere von der Steuerkonsole und warf es mit so viel Wucht wie möglich auf ihn. Es traf ihn mit einem abgewürgten Quietschen in die Brust und fiel dann auf den Boden.

„Faye!“ Haluk sah überrumpelt aus und stand halb aus dem Fahrersitz auf. „Ich werd’s wieder gutmachen, okay? Versprochen –“

Sie unterbrach ihn mit einer Geste. „Nein. Es reicht.“ Sie atmete tief ein, um sich zur Ruhe zu zwingen. „Soll ich koordinieren bei ... was auch immer du hier grade machst?“

„Nein, ich will dich nicht stören.“ Man musste es Haluk wenigstens zugute halten, dass er bei diesen Worten sofort verlegen aussah. „Also nicht ... nicht noch mehr, als ich es eh schon habe.“

Faye atmete tief ein, um ihn anzufahren, riss sich dann aber zusammen. „Das ist kein Problem. Ich schmeiß den Verstärker an.“

Vielleicht konnte sie sich nicht mehr an vergangene Feiertage erinnern. Aber sie würde sich an diesen erinnern.

Haluk lehnte sich erleichtert zurück. Er griff nach dem Funkgerät. „Hey, ihr beiden, hört ihr mich? Haltet noch kurz durch. Gleich haben wir ’nen Krypter dabei.“

Faye ging zurück zum Verstärker und setzte sich auf den Stuhl. Als die Verbindung hergestellt wurde, rauschte ihr Bewusstsein aus ihrem Körper heraus, aus der geschlossenen Kabine des Läufers mit ihren bunten Lichtern und Papierdekorationen und hinaus in die Weite des Portals. In der Dunkelheit sah sie die funkelnden Lichter von Haluk, der sich wieder mit dem Läufer verband, und den beiden jungen Freelancern in ihren Javelins. Sie streckte sich, um sie zu berühren und sie in ihr Bewusstsein zu ziehen, und bald sah sie den Schnee, der auf Bastion fiel, durch zwei Paar Augen und die optischen Geräte des Läufers. Sie roch das Eis im Wind und spürte, wie sich Raureif auf der Außenseite des Läufers bildete. Die Welt fühlte sich so nah an, so echt.

Okay, Freelancer“, sagte sie. „Dann mal ran an die Arbeit.“

Durch das Portal summte Haluk so schief, wie es nur ging, ein Eisflut-Lied. Faye überlegte kurz und schickte ihm dann den Text zu.


Besonderer Dank geht an John Dombrow, Ryan Cormier, Cathleen Rootsaert, Jay Watamaniuk, Karin Weekes.


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